Kastration

Reizthema Kastration

Angesichts der jährlichen Überschwemmung des Marktes mit vielen hunderttausend jungen Modehunden aus in- und ausländischen Zuchtfabriken und der bedenklichen Überpopulation in den Tierheimen sollte kein verantwortungsbewusster Tierfreund seine eigene Hündin leichtsinnig oder aus Sentimentalität, gewollt oder ungewollt, decken lassen. Die sogenannten Läufigkeitsspritzen empfehlen sich aus medizinischen Gründen nicht, denn sie sind gesundheitsschädlich und krebserregend. Vor allem für ehemalige Zuchthündinnen sind diese Hormoncocktails eine äußerst gefährliche Belastung. Also hilft in den kritischen Tagen nur Kontrolle - Anleinen, Aufpassen, Tür und Tor sichern - oder Kastration. Schwieriger stellt sich die Situation mit Rüden dar, die oft unter Dauerstress leiden, wenn mehrere Hündinnen in der Nachbarschaft heiß sind. Für die Rudelhaltung kommt zur Vermeidung unkontrollierter Vermehrung eigentlich nur die Kastration in Frage.

Ist so ein Malheur einmal passiert, muss für jeden neugeborenen jungen Hund ein gutes Zuhause gefunden werden. Ein Zuhause, in dem er seinen rassetypischen Anlagen gemäß aufwachsen kann, in dem er Liebe und Zuwendung findet, Futter und gesundheitliche Versorgung - und dies im Schnitt bis zu 15 Lebensjahre lang. Das ist keine leichte Aufgabe! Es gäbe nicht so viele Rassehunde-in-Not Vereine, wenn jede Welpengeschichte ein Happy-End finden würde.

Risiken eines Hundelebens

Heute muss man leider bei fast jedem zweiten Welpen davon ausgehen, dass er in seinem Leben einmal Tierschutzhund werden oder zumindest einmal seine Familie wechseln wird. Die Hälfte unserer Notfallhunde, die als Abgabehunde zu Retriever in Not kamen, sind unter drei Jahre alt. Ihre Familien wurden nicht mehr mit ihnen fertig, hatten sich das Leben mit Hund anders vorgestellt, hatten plötzlich kein Geld oder keine Lust mehr und wollten oder konnten dem Hund irgendwie nicht gerecht werden. Immerhin haben sie sich entschlossen, dem Hund die Chance auf einen Neuanfang in einer anderen Familie zu geben. Er wurde nicht an der Autobahn angebunden, im Tierheim über den Zaun geworfen, per Internet an unbekannt verhökert oder einfach in der alten Wohnung zurückgelassen. 
Hat der Hund sich doch gut in seiner Familie eingelebt, riskiert er, zum Scheidungsopfer zu werden - zumindest gehört dies unserer Erfahrung nach zu einem der häufigst genannten Abgabegründe. Das letzte große Trennungsrisiko für den Hund ist sein Altwerden. Ein gutes Drittel unserer Abgabenotfälle sind Seniorenhunde über 7 Jahre, die ihren Lebensabend aus den verschiedensten Gründen nicht mehr in ihrer Erstfamilie verbringen dürfen.

Glücklicherweise muss nicht jeder Hund so ein Schicksal erleiden. Aber je stärker der Hund zur Ware wird und die Haltung von Hunden kurzlebigen Modeströmungen unterworfen ist, umso häufiger machen Tierschützer die Erfahrung, dass sich ihre menschlichen Zeitgenossen leider allzu leicht von ihrem 'Freund fürs Leben' zu trennen bereit sind. Von den menschlichen Katastrophen und finanziellen Zwangslagen, die leider auch immer häufiger hinter der Abgabe eines geliebten Familienhundes stehen, einmal ganz zu schweigen.

Private Kleinanzeige in einer deutschen Tageszeitung - gut gemeint, aber sehr gefährlich. Warnung: Es sollte immer eine Tierschutzgebühr erhoben und ein Schutzvertrag aufgesetzt werden, schon allein um auszuschließen, dass ein eventueller Weiterverkauf des Tieres an Versuchslabore oder Vermehrer sich rechnet. Sicher ist sicher! Besser noch ist die Vermittlung über einen Tierschutzverein, der sich mit der Vor- und Nachkontrolle von Bewerberfamilien auskennt!

Züchten in der Wegwerfgesellschaft

Als wir feststellen mussten, dass uns auch Abgabehunde von Züchtern aus anerkannten Zuchtverbänden angetragen wurden, forderten wir alle Zuchtverbände auf, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten und dafür Sorge zu tragen, dass die ihnen angeschlossenen Züchter die Verantwortung für die von ihnen in die Welt gesetzten Lebewesen auch tatsächlich übernehmen!
Wer in diese Wegwerfgesellschaft Hunde verkauft, muss leider inzwischen damit rechnen, dass sie (über kurz oder lang) wieder abgegeben werden. In den meisten Fällen wird der Hund zum Opfer dieser 'modernen Flexibilität'. Dagegen gibt es nur zwei probate Mittel: eine möglichst gute und sorgfältige Vorkontrolle der Bewerberfamilien und das aufrichtige Angebot, den Hund jederzeit wieder zurückzunehmen, wenn die Familie sich in einer Notlage befinden sollte.
Das heißt im Umkehrschluss: Wer das nicht leisten kann, sollte die Finger vom Züchten lassen!

Wer einen Wurf Welpen riskiert, übernimmt damit also, ob er will oder nicht, die Verantwortung für bis zu 12 Lebewesen, ein Hundeleben lang! Es ist nicht damit getan, acht Wochen sorgfältig die Wurfkiste zu betreuen und die Kleinen regelmäßig zu entwurmen. Und noch etwas: Wenn man nicht kontrollieren kann, ob die Elterntiere gesund sind, wie wird man sich fühlen, wenn der Wurf Welpen schwer krank wird oder die Tiere ihr Leben lang Schmerzen haben?

Die 'Neue' auf der Zuchtstation: Ihre Schönheit wurde ihr zum Verhängnis. Sie hat sicher vorher in einer Familie gelebt, denn ihr altes Lederhalsband trägt sie noch. Sie versteht die Welt nicht mehr - ihre Augen sind leer! Wie kam sie überhaupt hierher? Über eine Zeitungsannonce? Verschenkt? Verkauft? Ist sie entlaufen? Wurde sie vor einem Geschäft angebunden und gestohlen? Vielleicht ist sie ein Abgabehund und ein Strohmann hat bei ihrer Familie eine gute Show hingelegt und sie 'für seine Kinder' mitgenommen. Wer weiß?

Es gibt viel zu viele Hunde!

Wir haben uns bei Retriever in Not e.V., wie viele andere Tierschutzvereine auch, dafür entschieden, unsere Hunde nur mit einer Kastrationsauflage zu vermitteln. In den meisten Fällen haben wir schon vor der Vermittlung dafür Sorge getragen, dass die Tiere von einem Tierarzt kastriert worden sind. Wir möchten ihnen ein Schicksal als Vermehrerhund für alle Zeiten ersparen. Vor einer eventuellen Trennung von ihrer Familie können wir sie nicht schützen, deswegen vereinbaren wir in unseren Tierschutzverträgen, dass wir jeden Hund, aus welchen Gründen auch immer, wieder in unsere Obhut zurücknehmen werden. Das sind wir unseren Schützlingen schuldig!

Medizinische Indikation für die Kastration von Zuchthunden

Die meisten unserer Notfallhunde (auch Abgabehunde) sind Vermehrerhunde - Tiere, die ohne jegliche züchterische Sorgfalt vermehrt wurden und in vielen Fällen von Erbkrankheiten belastet sind. Eine Weitervererbung dieser zum Teil sehr schweren, in vielen Fällen rassespezifischen Erkrankungen sollte in jedem Fall unterbunden werden. Retriever z.B. sind in erster Linie durch Erkrankungen des Bewegungsapparates betroffen, Hüftdysplasie (HD) sowie Osteochondrosis - Ellenbogendysplasie (OCD-ED). Auch erbliche Augenkrankheiten wie die Progressive Retina Atrophie - fortschreitende Netzhautdegeneration (PRA) oder der Hereditäre Catarakt - Epilepsie (HC) kommen häufig vor.

Bei den ehemaligen Zuchthunden und Zuchthündinnen, die oft jahrelang als Deckrüde oder Gebärmaschine missbraucht wurden, ist eine medizinische Indikation noch sehr viel drastischer gegeben: Die meisten Hunde werden in den Zuchtfabriken einer dauernden Hormonbehandlung ausgesetzt, um die Aufnahmefähigkeit der Hündinnen zu steigern. Die Hündinnen werden auf diese Weise dreimal im Jahr läufig und produzieren rund 25 Welpen pro Jahr. Die relativ teuren Hormongaben rechnen sich für den Vermehrer schnell.
Für die Hündinnen jedoch ist diese Profitgier lebensgefährlich. Selbst bei sachgemäßer Verabreichung der Hormonspritzen können lebensbedrohliche Krankheiten der Gebärmutter entstehen, die dauernden Hormongaben sind extrem krebserregend. Auch die vielen Geburten, von Laien durchgeführte Kaiserschnitte und häufige Entzündungen der inneren Organe führen in vielen Fällen zu tumorartigen Veränderungen der Gebärmutter und der Eierstöcke.

Die Fotos zeigen verwachsene Eileiter von Zuchthündinnen, mit dicken Zysten und Tumoren, aufgereiht wie Perlenschnüre. Durch die häufigen Hormonbehandlungen und dauernden Schwangerschaften der Zuchthündinnen gleichen ihre Gebärmütter oft medizinischen Zeitbomben, oft sind diese außerdem vereitert oder entzündet. Die Bauchräume der Hündinnen sind durch mehrfach unprofessionell durchgeführte Kaiserschnitte vielfach von Narbengewebe durchzogen, die Eierstöcke miteinander oder mit dem Darm verwachsen.

Die Kastration wird somit für die Zuchthündinnen zur lebensverlängernden Maßnahme. Sie ist oft ihre einzige Chance, das gerade gewonnene Leben in Freiheit noch über einen längeren Zeitraum genießen zu können.

Aus diesem Grund besteht Retriever in Not e.V./ Liberty for Dogs auf einer möglichst zeitnahen Kastration der ehemaligen Zuchthündinnen. Um hohen Blutverlust und größere Komplikationen zu vermeiden, sollte der OP-Termin zeitlich zwischen zwei Läufigkeiten gelegt werden. Der optimale Zeitpunkt für eine Kastration liegt, sofern keine medizinisch dringliche Indikation für eine Not-OP vorliegt, drei Monate nach dem Ende der letzten Läufigkeit, +/- eine Woche. Der Abstand zwischen den Läufigkeiten sollte so groß wie möglich gewählt werden, um eine mögliche Komplikation während oder nach der OP möglichst gering zu halten. Während der Läufigkeit ist die Durchblutung der Gebärmutter stark erhöht, aus diesem Grund kann es häufiger zu Nachblutungen kommen. Auch während einer Scheinträchtigkeit (ca. 60 Tage nach Ende der Läufigkeit) sollte man aus diesen Gründen nicht operieren.

Bei der Kastration werden die Organe entfernt, die durch den jahrelangen Missbrauch vielfach geschädigt wurden. Dadurch können keine Erkrankungen der Gebärmutter und der Eierstöcke mehr auftreten. Durch die hormonelle Umstellung kann sich die Kastration auch vorteilhaft auf die Psyche der Hündin auswirken. Beim richtig gewählten OP-Zeitpunkt treten hormonelle Auswirkungen nach der OP meist in gemilderter Form auf. Abgesehen davon, dass der vielfach nicht zu unterschätzende hormonelle Stress der Läufigkeit entfällt, reagieren besonders ängstliche, nervöse und hyperaktive Hündinnen oft sehr positiv auf eine Kastration. Sie werden ausgeglichener, konzentrierter und selbstbewusster.

Im unseren Tierschutzverträgen legen wir für die Kastration ein Zeitfenster fest und geben den Adoptivfamilien ein Merkblatt an die Hand, dass sie auf die Kastration der Zuchthündin vorbereitet und ihnen Information für den Tierarzt mit auf den Weg gibt.

Bei ehemaligen Zuchtrüden ist ebenfalls eine Kastration aus medizinischen Gründen angezeigt. Die für die Potenzsteigerung verabreichten Hormongaben verursachen Krebs und setzen die Hunde unter hypersexuellen Dauerstress. Retriever in Not e.V./Liberty for Dogs ist dazu übergegangen, ausrangierte Zuchtrüden möglichst schnell kastrieren zu lassen, denn die Kastrations-OP ist für Rüden ein vergleichsweise geringfügiger Eingriff und jederzeit durchführbar.

Diskussionsthema Kastration

Über das Thema Kastration gibt es die verschiedensten Ansichten und Meinungen. Mit Berufung auf das Tierschutzgesetz gibt es z.B. die Position, Kastration als Amputation von gesunden Körperteilen zu betrachten und mit dem (verbotenen) Coupieren von Ohren und Schwanz gleichzusetzen. Auf der anderen Seite dürfen Jagdhunde wegen angeblicher Verletzungsgefahr weiterhin coupiert werden, obwohl eine besondere Gefährdung ihrer Ruten bei der Jagd keinesfalls nachgewiesen ist. Für Katzen gilt diese Amputationsformel interessanterweise nicht.

Genauso gut kann man als Tierschützer die Meinung vertreten, dass die deutschen und europäischen Tierschutzgesetze den Tieren hinsichtlich unkontrollierter Vermehrung und Zucht nicht den Schutz bieten, den sie brauchen. Sie sollten das Recht haben auf Schutz vor rassetypischen Erbkrankheiten, das Recht auf gesunde Ernährung, angemessene Unterbringung, medizinische Versorgung und Betreuung, das Recht auf unabhängige Kontrollinstanzen, die sie schützen vor Missbrauch und Ausbeutung. Zukunftsmusik angesichts der Millionen Euro, die die Hundeproduzenten mit der Ware Hund auf dem deutschen Markt alljährlich umsetzen.

Bei den meisten unserer Schützlinge ist eine Kastration schon aus medizinischen Gründen absolut angeraten und deshalb auch im Sinne des Tierschutzgesetzes unbedingt durchzuführen. Über die Kastration gesunder Hunde kann man unterschiedlicher Meinung sein. Dann sollte man sich jedoch im Vermittlungsgespräch offen darüber auseinandersetzen. Falls es nicht zu einer Einigung kommt, muss man eben einen anderen Tierschutzverein oder Züchter suchen, der keine Kastrationsauflagen verlangt. Einen Tierschutzvertrag mit einer Kastrationsauflage zu unterzeichnen, ohne die Absicht zu haben, ihn diesbezüglich einzuhalten, ist schlichtweg Betrug.